Schweizerische Rettungsflugwacht Rega, zur Startseite
Jahresbericht 2024
Aussicht vom Cockpit über einer Wolkendecke

Im Fokus

Weltweiter Meilenstein in der Helikopterfliegerei: Zulassung für ein neues Instrumentenflugverfahren

Die unsichtbare Strasse, die weltweit Massstäbe setzt

Als weltweit erste Helikopterbetreiberin hat die Rega die Bewilligung erhalten, ein neues, hoch präzises Instrumentenflugverfahren namens «RNP-AR» zu nutzen. Erfahren Sie, wie dieses funktioniert und wie die Schweizer Bevölkerung davon profitieren wird. 

Seit mehr als zehn Jahren verfolgt die Rega ihre Vision «Retten bei jedem Wetter». Erklärtes Ziel: die Anzahl der Einsätze, die aufgrund von schlechten Wetterbedingungen nicht durchgeführt werden können, weiter zu verringern und noch mehr Menschen in Not zu helfen. Eine zentrale Rolle dabei spielen die Instrumentenflugverfahren (IFR), welche den Cockpitcrews erlauben, mithilfe des Autopiloten auf vordefinierten und im Bordrechner gespeicherten Flugrouten durch Nebel und Wolken zu fliegen. Die Rega ist ihrem ehrgeizigen Ziel seither stetig nähergekommen: Heute setzen die Helikoptercrews pro Jahr über 700-mal auf das Instrumentenflugverfahren, beispielsweise um einen schwerverletzten Wintersportler bei einer Hochnebellage sicher von den Bergen in ein Zentrumsspital unter der Nebeldecke zu fliegen.

Bemühungen tragen Früchte 

Was heute zum Alltag der Rettungscrews der Rega gehört, ist das Resultat jahrelanger Aufbauarbeit: Intensive Ausbildung der Cockpitcrews, Messflüge, Risikonachweise, Routendesigns, eigene Wetterstationen für aktuelle Flugwetterdaten sowie aufwendige Simulatortrainings waren wichtige Puzzleteile. Eine zentrale Bedeutung kommt dem Aufbau des «Low Flight Network» (LFN) zu: Das schweizweite Netzwerk aus satellitengestützten Instrumentenflugrouten, das Helikoptern auch bei schlechter Sicht sichere Navigation zwischen Rega-Basen, Flughäfen und Spitälern ermöglicht, wurde von der Rega initiiert und gemeinsam mit der Luftwaffe und dem Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) aufgebaut. Seit dem politischen Entscheid zur Einstufung als «kritische nationale Luftfahrtinfrastruktur» Mitte 2021 läge dieses Netzwerk in der Verantwortung des Bundes. Weil es aber nicht vorwärtsgeht, treibt die Rega das Projekt weiter voran.
 

Höchste Präzision für anspruchsvolles Gelände

RNP-AR-Verfahren können präziser und enger entworfen werden, weil sie höhere Anforderungen an die Navigationsgenauigkeit, die technische Ausrüstung des Helikopters sowie an die Ausbildung der Crew stellen. Dank hochentwickelter Avionik, der Genehmigung (AR=Authorization Required) des Regulators und der strengen Betriebsverfahren können RNP-AR-Verfahren bei gleicher Sicherheit geringere Puffertoleranzen nutzen. Die Kombination aus moderner Satellitennavigation, Trägheitsnavigationssystemen und Autopilot erlaubt eine sehr genaue Führung entlang der geplanten Route, selbst mit engen Kurvenradien und steilen Sinkflugprofilen, was herkömmliche RNP-Verfahren nicht zulassen. So können An- und Abflugrouten optimal an schwieriges Gelände angepasst werden. Dies erlaubt sichere Anflüge in engen Tälern, und der Entscheidungspunkt kommt näher beim Spital zu liegen: Je näher dieser Punkt beim Spital liegt, desto tiefer kann die Wolkendecke sein, und die Rega-Crews können das Spital trotzdem noch anfliegen.

Das unsichtbare Strassennetz in den Wolken 

Die LFN-Routen verbinden verschiedene Regionen in der Schweiz miteinander, ähnlich einem Netz von Autobahnen. Die «Zu- und Abfahrten» auf dieses Netz befinden sich bei Rega-Basen, Flughäfen und Spitälern. Die bisher realisierten «Abfahrten», beispielsweise beim Inselspital Bern oder beim Universitätsspital Zürich, wurden als sogenannte LPV-Point-in-Space-Verfahren entwickelt. Diese Anflugverfahren beinhalten eine satellitengestützte, vertikale und horizontale Kursführung bis zu einem definierten Punkt vor dem Landeplatz, wo der Pilot entscheidet, die Landung unter Sichtflugbedingungen auszuführen oder im Autopiloten der vordefinierten Ausweichroute zu folgen. Die nach diesem Verfahren gestalteten Routen benötigen viel Platz und Abstand zu Hindernissen. Es sind auch keine Kurven im Anflug möglich, beispielsweise um die Route der Topografie anzupassen.

Neue Herausforderungen in den Alpentälern 

Die bei Zentrumsspitälern realisierten «Abfahrten» befinden sich alle im Mittelland, wo die flache Topografie es erlaubt, die breiten Anflugrouten mit genügend Abstand zum Gelände zu gestalten. Anders sieht es jedoch in den Alpentälern, wie beispielsweise im Engadin, bei Davos oder im Berner Oberland aus, wo die Topografie rund um die Spitäler den Einsatz von herkömmlichen IFR-Anflugverfahren verunmöglicht. Die Lösung dieses Problems war für die Rega seit Längerem klar: Es galt, für diese Regionen ein noch präziseres IFR-Verfahren, das in der Flächenfliegerei schon vereinzelt eingesetzt wird, zu nutzen. Das sogenannte RNP-AR-Verfahren (RNP-AR = Required Navigation Performance Authorization Required) erlaubt eine äusserst genaue und optimal an das Gelände adaptierte Routenführung und ermöglicht es, die Routen allgemein «schmaler» sowie mit engeren Kurvenradien und Sinkflugprofilen zu entwickeln. Damit kann die Rega Instrumentenanflugverfahren auch in der anspruchsvollen Topografie von Alpentälern realisieren, wo Hindernisse umflogen werden müssen und sich der sogenannte Entscheidungspunkt möglichst nahe und in geringer Höhe beim Spital befinden sollte: ähnlich einer engen Passstrasse in anspruchsvollem Gelände, wo es keinen Platz für eine breite Autobahn gibt.

Navigationsgenauigkeit auf höchstem Niveau 

Diese «engen» Luftstrassen wiederum stellen höchste Anforderungen an die Navigationsgenauigkeit der Helikopter mit deren Navigations- und Autopilotensystemen. Annähernd vergleichbar ist dies mit dem autonomen Fahren eines Autos: Die Anforderungen an die Navigationsgenauigkeit und an den Autopiloten sind auf einer breiten und geraden Autobahn geringer als auf einer Passstrasse mit enger Fahrbahn und Haarnadelkurven. Die Herausforderung bei der Realisierung dieser Idee erinnert an die berühmte «Huhn-Ei-Frage»: Weil es in der Helikopterfliegerei weltweit noch keinen für ein RNP-AR-Verfahren zugelassenen Helikopter gab, konnte bisher auch kein RNP-AR-Verfahren genehmigt werden. Und ohne vorhandene Verfahren konnten keine Helikopter zertifiziert werden.

Die Rega übernimmt die Initiative 

Damit gab sich die Rega jedoch nicht zufrieden: Sie hatte sich vor einiger Zeit zum Ziel gesetzt, dieses neue Verfahren zu nutzen, und brachte deshalb die verschiedenen Akteure, die an den Kriterien für eine Zulassung mitarbeiten müssen, an einen Tisch. Im Projekt ARIOS (Advanced Rotorcraft IFR Operations in Switzerland) hat die Rega gemeinsam mit dem BAZL und der Europäischen Flugsicherheitsbehörde EASA, Verfahrensdesignern, Helikopterherstellern und weiteren Experten die Kriterien für RNP-AR-Helikopterverfahren entwickelt. Die Rega führte in den vergangenen Jahren intensiv Messflüge durch, erstellte Risikoberechnungen und entwarf und testete eine neue Instrumentenflugroute für das Spital Interlaken und den Regionalflughafen Samedan. In der Folge wurde der Kriterienkatalog auf Basis der Mess- und Testflüge angepasst und bestätigt. Schliesslich konnte die Rega beim BAZL die erforderlichen Nachweise zur Genehmigung für die Verfahren beim Spital Interlaken einreichen.

Interlaken als erste RNP-AR-Route 

Die Wahl der Region Interlaken als erstes Einsatzgebiet für RNP-AR war naheliegend: Die Rega-Basis Wilderswil, die nur wenige Flugminuten vom Spital Interlaken entfernt liegt, weist das höchste Einsatzaufkommen aller Gebirgsbasen auf. In der anspruchsvollen Topografie rund um Interlaken mit engen Tälern und hohen Gipfeln kommt die Präzision des Verfahrens voll zur Geltung. Das BAZL hat die Unterlagen geprüft und das Verfahren im vergangenen Juli zugelassen. Somit sind die Grundlagen gelegt, damit das «Low Flight Network» weiter ausgebaut und insbesondere Spitäler in den Alpentälern daran angeschlossen werden können.
 

Ausblick: mehr Sicherheit für die Luftrettung

Mit dem neuen RNP-AR-Verfahren lassen sich Hindernisse wie Stromleitungen oder Berggipfel sicher umfliegen, und präzise Anflugrouten minimieren die Risiken für Crews, Patientinnen und Patienten. Doch auch dieses Verfahren hat seine Grenzen: Extrem schlechte Wetterbedingungen wie Vereisung, dichter Nebel in Bodennähe oder starke Winde können Einsätze weiterhin verunmöglichen. Trotzdem ist das RNP-AR-Verfahren ein bedeutender Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung der Rega-Vision. Eine Vision, die eben genau das ist: ein Ziel, das man anstrebt und dem man immer näherkommen will, im Wissen darum, dass man eine Vision zwar verfolgen kann, aber wohl nie ganz erreichen wird. Ein Antrieb, Technologien weiterzuentwickeln, um noch mehr Menschen in Not zu helfen – sicher und zuverlässig, selbst unter den schwierigsten Bedingungen.

Engere Kurvenradien, schmalere Routen

Die höchsten Anforderungen an die Navigationsgenauigkeit und Ausrüstung der Helikopter erlauben es, die Instrumentenflugrouten enger zu zeichnen. Sogar Kurvenradien bei gleichzeitigem Absinken sind möglich.

Eine wichtige Rolle beim weiteren Ausbau der Instrumentenflugrouten nehmen die 21 neuen Rega-Helikopter des Typs Airbus H145 D3 «Version Rega» ein, die bis Ende 2026 die aktuelle Flotte ersetzen werden. Der neue Rettungshelikopter kann nämlich etwas, was kein anderer Helikopter kann: Der Hersteller Airbus hat auf Anfrage der Rega den weltweit ersten Helikopter entwickelt, der mit einer Navigationsgenauigkeit von RNP 0,1 zugelassen werden wird. Das bedeutet, der Helikopter muss in der Lage sein, seine Position auch ohne GPS mit einer maximalen Abweichung von 0,1 nautischen Meilen (185 Meter) oder weniger über eine bestimmte Distanz zu halten. Die aktuellen Helikopter modernster Bauart sind für eine Navigationsgenauigkeit von RNP 0,3 (555 Meter) zugelassen. 

Für die neuen Rega-Helikopter mussten verschiedene Systeme und Komponenten neu entwickelt, aufeinander abgestimmt, getestet und verbaut werden. Hersteller und Rega rechnen damit, dass die Zulassung für die Systeme, die bereits in den Maschinen verbaut wurden, bis Ende 2025 eintreffen wird. Die neue Flotte mit der erhöhten Navigationsgenauigkeit wird es der Rega erlauben, künftig sogar noch schmalere und tiefer liegende Luftstrassen zu bauen und sicher zum Wohl von Patientinnen und Patienten zu nutzen.

IFR (Instrument Flight Rules): Bei Flügen nach Instrumentenflugregeln wird nicht nach Sicht (englisch: Visual Flight Rules, VFR), sondern ausschliesslich mithilfe von Instrumenten und Navigationssystemen geflogen. IFR ist Voraussetzung, um durch Wolken- oder Nebelschichten zu fliegen, und ermöglicht sichere Einsätze bei schlechten Wetterbedingungen. 

LFN (Low Flight Network): ein schweizweites Netz aus vordefinierten IFR-Routen, das Rega-Basen, Flughäfen und Spitäler verbindet, um wetterunabhängige Rettungsflüge zu ermöglichen. PinS (Point-in-Space): ein satellitengestütztes IFR-Anflugverfahren für Helikopter, bei dem der Pilot bis zu einem definierten Punkt nach Instrumenten- und ab da bis zur Landung nach Sichtflugregeln fliegt. 

RNP (Required Navigation Performance): ein Navigationsverfahren mit definierter Genauigkeit, das moderne Bordcomputer und Satellitennavigation nutzt. RNP-AR (Authorization Required): eine erweiterte RNP-Version mit noch höherer Präzision, engeren Toleranzen und speziellen Zulassungsanforderungen für anspruchsvolle Anflüge. 

Zusammenhänge: Das Low Flight Network basiert auf satellitengestützten IFR-Routen und nutzt RNP-(AR)- und PinS-Verfahren für Anflüge, etwa bei Spitälern.